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Ohne Erinnerung keine Versöhnung und keine Zukunft in Freiheit

Bewegender Gottesdienst zum Gedenken und zur Erinnerung

Essen, 07.05.2025. Am Vorabend des 8. Mai, dem achtzigsten Jahrestag der Befreiung von der NS-Diktatur, haben über 350 Essener Bürgerinnen und Bürger in der Erlöserkirche der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht. Die Leitung hatten Superintendentin Marion Greve und Stadtdechant Jürgen Schmidt. Oberbürgermeister Thomas Kufen und Elvira Neumann, stellv. ACK-Vorsitzende, wirkten an den Fürbitten mit. Für die musikalische Gestaltung sorgten Wolf Codera (Saxofon) und Stephan Peller (Orgel). Nachfolgend dokumentieren wir die Predigt von Marion Greve und Jürgen Schmidt.

I. GEDANKEN ZUM INNEHALTEN – IM WECHSEL

Marion Greve:

Wir denken heute an den 8. Mai 1945. Vor achtzig Jahren endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht.

Jürgen Schmidt:

Wir denken an das unermessliche Leid, das Deutsche verursacht haben. Über 6 Millionen ermordete Juden. Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma, von politisch anders Denkenden, von Menschen mit Behinderungen, Homosexuellen und vielen weiteren, denen von den Nationalsozialisten das Recht zu leben abgesprochen wurde. Wir denken an Einschüchterung, Diskriminierung und Gewalt.

Marion Greve:

Wir denken an über 50 Millionen Tote, 35 Millionen Verwundete und 3 Millionen vermisste Menschen im Krieg. An das Grauen, das mit einem Krieg in Verbindung steht.

Jürgen Schmidt:

Und wir denken an das Schweigen, das stille Zusehen und das Versagen der Kirchen in der Zeit des Nationalsozialismus.

Marion Greve:

Wir denken an den 8. Mai zugleich als Tag der Befreiung für alle Jüdinnen und Juden, die bis dahin überlebt hatten, und für alle anderen, die von der Deportation bedroht waren. Aus heutiger Sicht ist der 8. Mai ein Tag, der in all der Zerstörung, dem Hunger und dem Elend des Kriegsendes ein Fenster aufmachte für Hoffnung auf etwas Neues, auf Frieden und auf ein Leben im Miteinander zwischen Menschen innerhalb Deutschlands und über Ländergrenzen hinweg. Doch soweit war damals noch niemand.

Die Perspektive, die sich nach dem Krieg im Osten und im Westen Deutschlands auftat, war sehr verschieden. Das Kriegsende ist auch verbunden mit einer Teilung Deutschlands, mit der Trennung von Menschen und mit einer Diktatur im Osten Deutschlands und Europas.

Jürgen Schmidt:

Wir denken an den 8. Mai und sind dankbar dafür, dass wir heute gute Beziehungen zu unseren Nachbarländern haben. Dafür, dass Schuld und Versagen eingestanden, Vergebung und Versöhnung möglich wurden und immer noch sind. Mit Polen und Frankreich und vielen anderen Ländern, die unter deutschen Besatzern gelitten haben, erleben wir heute Freundschaft und Zusammenarbeit. Das ist nicht selbstverständlich.

Marion Greve:

Wir denken an den 8. Mai 1945 als Beginn einer Auseinandersetzung der Kirchen in Deutschland mit ihrer Verantwortung in der Zeit des Nationalsozialismus.

Jürgen Schmidt:

Wir denken schließlich an die deutlichen Worte des Ökumenischen Rates der Kirchen aus dem Jahr 1948 in Amsterdam: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“

II. ERINNERN GEHÖRT ZUM GLAUBEN – MARION GREVE

Am 8. Mai endete die furchtbarste Katastrophe, die je von Menschen angerichtet worden ist. Zwölf Jahre nationalsozialistischer Diktatur in Deutschland haben ausgereicht, um ganz Europa in ein Trümmer- und Leichenfeld zu verwandeln. Am Ende waren es über 50 Millionen Tote und unzählige an Leib und Seele Verletzte. Wir zählen die Getöteten und wissen: Zahlen sind abstrakt. Sie erfassen nicht ansatzweise den Schrecken dahinter.

Dennoch fassen wir uns ein Herz und blicken auf unsere Stadt Essen. Wir beklagen in Essen:
- 32.440 Kriegstote. Davon waren 18.537 Soldaten, 6.384 Zivilisten und 7.519 Menschen, die später von Essener Gerichten für tot erklärt wurden.
- 2.500 Essener Jüdinnen und Juden wurden ermordet. Rund 300 Frauen und Männer aus Essen aus politischen und religiösen Gründen umgebracht.
- 799 Kriegsgefangene und 1.800 Zwangsarbeiter hat man auf Essener Friedhöfen begraben.
- Die Stadt selbst – sie lag in Trümmern: von ca. 184.000 Wohnungen wurden 80.000 total zerstört und 20.000 schwer beschädigt.

Die Menschen, die den 8. Mai 1945 erlebt haben, tragen ganz persönliche Erinnerungen mit sich. Der eine kehrte heim, - der andere wurde heimatlos. Diese wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. Viele waren nur dankbar, dass die Bombennächte ein Ende hatten und sie mit dem Leben davongekommen waren. Verbittert standen viele Deutsche vor zerstörten Illusionen, dankbar andere vor dem geschenkten neuen Anfang.

In der „Psychiatrie der Verfolgten“, einer Studie zu den psychischen Folgen des Holocaust, werden die seelischen Folgen für überlebende Jüdinnen und Juden eindrücklich geschildert: auch wenn sie physisch überlebten, eine „Befreiung“ von den erlittenen Traumata war es nicht. In abgestufter Weise gilt dies auch für alle anderen, die unter Todesangst oder tatsächlicher Gewalt leiden mussten, bis in die Enkelgeneration hinein. Wie erinnere ich heute angemessen diesen Schrecken?

Indem ich eine Zeitzeugin zu uns sprechen lasse, und höre, wie sie das Ende des Krieges hier im Ruhrgebiet erlebt hat - die verstorbene Essenerin Maria Heinrichs, geborene Hinderfeld. Sie beschreibt die Befreiung durch die Amerikaner am 30. März 1945 in ihrem Tagebuch. An dieser Stelle sage ich Danke für den Austausch mit Herrn Gregor Heinrichs, als Sohn von Maria Heinrichs, für die Bereitschaft, Erinnerungen zu teilen. Er selbst hat das Kriegsende mit ca. 6 Jahren in Eiberg miterlebt. Heute, achtzig Jahre später, hören wir – stellvertretend für viele Essenerinnen die Worte seiner Mutter. Vom 30. März 1945 berichtet Maria Heinrichs:

„An diesem unheimlichen Tag fing nachmittags um drei der Beschuss an. Zu der Zeit wagte meine Schwester Töny es noch, schnell zu Kellers Bunker hinüberzulaufen. Als sie am Teich vorbeikam, hatten dort schon deutsche Infanteristen einen Schützengraben ausgehoben. Später fand man dort zwei erschossene deutsche Soldaten.

Indessen wurde der Lärm durch Kanonen und Granaten so stark, dass wir in unserem Luftschutzbunker glaubten, dass das Haus über uns zusammenstürzt. Nachdem wir über drei Stunden betend und vor Angst zitternd im Keller verbracht hatten, kam ein deutscher Soldat zu uns hereingestürzt und schrie: ‚Jetzt kommen sie! Ein Kamerad liegt oben auf der Treppe, erschossen.‘

Da habe ich in einer Mischung von Panik und Besonnenheit diesem und noch einem nachfolgenden Soldaten die Soldatenkappe vom Kopf gerissen. Ich wusste nämlich, dass dies ein Zeichen war, sich zu ergeben. Dann nahm ich den kleinen Wilfried unter den Arm, ging zur Kellertreppe und schrie hinauf in Richtung Kellertür in englischer Sprache: ‚Here are children in the cave! Please do not shoot!‘

Dann sah ich auch schon wie schwarze amerikanische Soldaten…Kaugummi kauend mit vorgehaltenem Gewehr die Treppe herunter kamen. Sie schossen geradeaus, wo Möbel- und Bettgestelle standen, die, wie wir später sahen, ganz durchlöchert waren.

Offensichtlich hatten die Amerikaner dort die zu uns geflüchteten deutschen Soldaten vermutet. Dann mussten auch wir Zivilisten den Keller verlassen und uns auf den Hof begeben. Ich wunderte mich, dass unser Haus noch aufrecht stand. Auf dem Hof pfiffen Kugeln an unseren Köpfen vorbei. Es war schrecklich…“

Neben der Angst begleitete Hunger die Überlebenden. Für Maria Heinrichs bedeutete die Nachricht vom offiziellen Kriegsende zwar eine Erleichterung, im Vergleich zur überlebenswichtigen Nahrungsbeschaffung aber war es für sie persönlich nur von untergeordneter Bedeutung.

All das sind schmerzvolle Erinnerungen. Aber das Gedenken an diesen Tag ist notwendig. Denn ohne Erinnerung kann es Versöhnung nicht geben.

Wer hassen will, braucht sich nicht zu erinnern. Wer liebt, der muss gedenken. Erinnerung gehört zu unserem Glauben: im Glauben an Kreuz und Auferstehung Christi wird Christinnen und Christen eine Zukunftsperspektive eröffnet, die weit über die Gegenwart hinausgeht – und die uns heute frei macht, sensibel, wachsam und aufmerksam für die Gefährdung des Friedens zu sein.

Ich bin heute dankbar für die vielfältige Bildungsarbeit gerade für junge Menschen; an den Schulen ebenso wie an nicht-schulischen Orten. Ich denke an die Allianzpartner in unserem zivilgesellschaftlichen Bündnis der „Essener Allianz für Weltoffenheit“ - an die Gewerkschaften, den Sportbund, Kirchen und Religionen, Jugendverbände, Wohlfahrtsverbände und viele mehr - gemeinsam bieten wir in Essen Orte an, um Demokratie einzuüben. Um uns zu stärken für ein friedvolles Miteinander in unserer Stadt. Hier und jetzt bitten wir: Richte du, Gott, unsere Füße auf den Weg des Friedens (Lk. 1,79). Amen.

III. NIE WIEDER IST JETZT – JÜRGEN SCHMIDT

Dieser Gottesdienst - so haben wir in der Einladung geschrieben - ist dem Gedenken und der Erinnerung gewidmet. Wir denken an die vielen Opfer und teilen die Trauer über die Toten. Wir erinnern an die Schrecken des Krieges, in dem so viele Männer, Frauen und Kinder gelitten haben, so viele Familien zerrissen wurden und so viel Zerstörung angerichtet wurde. Wir fühlen den Schmerz über das unfassbare Leid und die entsetzliche Not. Und wir ahnen, ja, bestenfalls ahnen wir, wie den Überlebenden von einst in diesen Tagen zumute sein mag.

Mit der Landung der Alliierten in der Normandie begann im Juni 1944 die Befreiung Europas. Anlässlich des Jahrestages richtete Papst Franziskus im vergangenen Jahr einen Brief an die französischen Gastgeber einer Gedenkveranstaltung. Er schrieb:

„Wenn die Erinnerung an die Fehler der Vergangenheit jahrzehntelang die feste Entschlossenheit gestützt hat, alles zu tun, um den Ausbruch eines neuen offenen Weltkonflikts zu verhindern, stelle ich mit Bedauern fest, dass dies heute nicht mehr der Fall ist und dass die Menschen ein kurzes Gedächtnis haben.“ Und weiter schrieb er: „Möge dieses Gedenken uns helfen, es wiederzuerlangen.“

Diesen Wunsch des verstorbenen Papstes möchte ich an diesem Abend in Erinnerung rufen – über die Grenzen von Kirchen und Konfessionen, von politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen hinweg. Möge unser Gedenken heute und hier uns helfen, das Gedächtnis wiederzuerlangen und weiter zu vertiefen. Sodass wir gemeinsam sagen können: Nie wieder. Und nie wieder ist jetzt!

Wir tun das bewusst in dieser Erlöserkirche – mit ihrer wechselvollen Geschichte: im März 1943 durch einen Luftangriff schwer beschädigt, das Dach defekt und das Gewölbe einsturzgefährdet, der Turm ohne Spitze und das Geläut nur noch mit einer Glocke. Das Gebäude für einen Gottesdienst völlig unbrauchbar geworden.

Und was passiert? Fleißige, tatkräftige und bereitwillige Menschen bauen die Kirche wieder auf und richten sie wieder her. Das war und ist weiß Gott nicht selbstverständlich. Das verdient Respekt und Anerkennung – bis in diese Stunde hinein. Erlöser-Kirche, der Name ist Programm. Hier geht es um den Erlöser. Der ist Mensch geworden - einer von uns - und von Jesaja, dem Propheten, in eindrucksvollen Bildern vorausgesagt:

„Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Du erregst lauten Jubel und schenkst große Freude. ... Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: Wunderbarer Ratgeber, starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. Seine Herrschaft ist groß; und der Friede hat kein Ende." (Jes. 9,1-2.5-6)

Sich an die Heilstaten Gottes zu erinnern, eröffnet Perspektiven für die Zukunft. Erinnerung ist eine Schwester der Hoffnung. Wo wir Menschen an unüberwindbare Grenzen stoßen, hat Gott ungeahnte Möglichkeiten.

Hoffnung ist kein Beruhigungsmittel gegen blinde Panikmache. Ganz im Gegenteil: wer Hoffnung hat, lebt anders. Hoffnung aktiviert. Sie bringt in Bewegung. Sie will etwas verändern. Oder, um es mit Martin Luther zu sagen: „Alles, was in der Welt erreicht wurde, wurde aus Hoffnung getan.“

Unsere Hoffnung auf Frieden hat ein Fundament. Gott selbst ist der Friede. Deshalb halten wir fest an unserer Zuversicht und treten ein für den Frieden. Manchmal vielleicht leise mit tröstenden Worten in der Not und Trauer eines Menschen. Manchmal vielleicht lauter mit nötigem Widerspruch, wo Worte Hass und Hetze säen.

Einsatz für den Frieden kann bedeuten, Begegnungen zu ermöglichen, Gegensätze abzubauen, Konflikte zu lösen, Gastfreundschaft zu gewähren und Feindschaften zu beenden. Oder: manchmal einfach die Hände zu falten, um für den Frieden zu beten. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Wir Deutschen taten uns lange schwer mit dem 8. Mai 1945. Erst mit wachsendem Abstand haben wir verstanden, dass dieser Tag auch für uns ein Tag der Befreiung war, ein Tag des Aufbruchs in eine neue und bessere Zeit. Auch wir sind befreit worden von den Grauen des Krieges und der Kriegstreiber. Obwohl Europa in Trümmern lag und Millionen Menschen ihr Leben verloren haben, begann mit dem 8. Mai eine Zeit der Versöhnung, des europäischen Zusammenwachsens und der transatlantischen Freundschaft.

Deshalb und gerade deshalb - meine ich - haben wir heute allen Grund zur Dankbarkeit - gegenüber denen, die uns befreit haben, und genauso gegenüber denen, die seit Ende des zweiten Weltkrieges beharrlich für Frieden und Versöhnung, Gerechtigkeit und Demokratie, für den Wohlstand und die Werte der Freiheit eintreten – hier in unserer Stadt, im ganzen Land und weit darüber hinaus.

Diese dankbare Erinnerung ist zugleich mit einem Auftrag verbunden. Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben den morgigen Gedenktag heute mit einer gemeinsamen Erklärung gewürdigt. Darin heißt es: „Zum Gedenken gehört die Verantwortung für die Zukunft.“

Und daraus folgt: Wir dürfen uns nicht zurücklehnen, wenn der alte Ungeist wieder sein Unwesen treibt. All diesen Versuchen halten wir entgegen: Nicht mit uns! Diesmal nicht! Unsere Werte sind uns heilig und bleiben uns heilig! Wer aus der Geschichte gelernt hat, der muss solchen Tendenzen mit großer Entschiedenheit entgegentreten.

Niemals dürfen wir uns an den Krieg gewöhnen! Niemals! Die Menschen sehnen sich nach Frieden.

Das gilt gerade auch für Christinnen und Christen, die dem Evangelium des Friedens verpflichtet sind. Aber wie soll das gelingen? Die Antwort gibt der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Rom: „Die Hoffnung lässt uns nicht zugrunde gehen“ (Röm. 5,5). Wenn das damals galt, warum dann nicht auch heute? Amen.

Unser Titelbild zeigt v.li.n.re. Stadtdechant Jürgen Schmidt, Superintendentin Marion Greve, Oberbürgermeister Thomas Kufen und stell. ACK-Vorsitzende Elvira Neumann. Foto: Alexandra Roth.

 

 

 

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